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Hans Reichenbach, in „Neue Züricher Zeitung“, 29.4.1922

Feuilleton.

Die Relativitätstheorie in der Streichholzschachtel.

Ein Dialog von Philosophus

Personen:

A. Der Herr mit dem gesunden Menschenver­stand.

P. Der Physiker.

A. Nicht wahr, Herr Physiker, die Relativitäts­theorie ist doch barer Unsinn. Die Zeit sei die vierte Dimension, und mein Spazierstock wird kürzer, wenn ich in der Eisenbahn fahre und von meinen Zwillingen wird der ältere bald der jüngere sein, weil meine Frau ihn mit auf die Reise genommen hat …

P. Aber erlauben Sie …

A. Nein, da ist nichts zu erlauben. Das wider­spricht dem gesunden Menschenverstand, und darum glaub ich‘s nicht.

P. Erlauben Sie trotzdem. Ihr gesunder Menschenverstand ist eine vorzügliche Sache. Bitte lassen Sie ihn mir nur 10 Minuten zu hören. Zum Beispiel weiß Ihr gesunder Menschenverstand ge­nau, wie man ein Streichholz anzünden kann.

A. Ja, natürlich, aber …

P. Oh, bitte, keiner Aber. Es handelt sich nur um ein einfaches Experiment. Ich möchte Ihnen die Ein­stein schöne Theorie ganz rasch im Experiment vor­führen.

A. Wie, Sie wollen das hier? Am Kaffeetisch? Wollen Sie die Sonne verfinsterte? Haben Sie die Lichtgeschwindigkeit in der Tasche?

P. Das Letztere schon eher, denn ich kann ja mein Streichholz anzünden. Aber Lichtgeschwindig­keit Brauch ich momentan nicht. Also ich behaupte, dass ich Ihnen in 2 Minuten die ganze Relativitäts­theorie experimentell beweisen werde.

A. Mein Herr, ich muss doch bitten …

P. Nein, ich bitte. Nämlich um Aufmerksamkeit. Also bitte, sehen Sie her. Ich halte in der linken Hand die Schachtel und bewege mit der Rechten das Streichholz daran entlang. Sehen Sie, es brennt.

A. Ja natürlich.

P. Sehen Sie. Nun halte ich ein neues Streich­holz in der rechten Hand, aber diesmal halte ich diese Hand still, und bewege die Schachtel entlang. Sehen Sie, es brennt auch.

A. Aber das ist doch ganz selbstverständlich …

P. Sehen Sie, jetzt finden Sie es auch selbstver­ständlich. Nämlich das ist genau das was Einstein sagt. Es ist fast der ganze Inhalt seiner großen Theorie, nur eine Kleinigkeit mehr behauptet er noch …

A. Und was wäre diese Kleinigkeit?

P. Also wie gesagt, nur eine Kleinigkeit. Nur ein einziger Satz mehr. Nämlich: das sei immer so, mit allen Dingen die es überhaupt gibt.

A. Das wäre alles was Einstein sagt? Interessiert er sich den nur für Streichholzschachteln?

P. Aber mein Herr, ich muss Sie daran erinnern, dass sie mir aufmerksam zuhören wollten. Ich habe nämlich gesagt: mit allen Dingen … Also nicht nur Streichholzschachteln.

A. Naja, vielleicht noch ein paar andere Feuer­zeuge …

P. Aber mein Herr. Also ich behaupte: aus meinem Experiment mit der Streichholzschachtel und dem kleinen Satz dazu kann ich Ihnen ableiten, dass Kopernikus nicht klüger war als der alte Ptolemäus, dass die Lichtstrahlen an der Sonne krumm werden, dass die Spektrallinien auf der Sonne „röter“ sind als bei uns …

A. Mein Herr, Sie scherzen.

P. Bitte hören Sie zu. Also erstmal Kopernikus. Er hat behauptet, dass die Erde nicht stillsteht, sondern sich dreht. Das kann man an der so genannten Zentrifugalkraft erkennen. Nicht wahr, Sie wissen schon? Wenn man einen Stein an einen Faden bindet und herum schwingt, wird der Faden gespannt. So wird auch die Erde durch ihre Drehung gespannt, darum ist sie bekanntlich am Äquator zu dick geworden, ihre Pole sind abgeplattet.

A. Oh, bitte, soviel wie ein Schulkind weiß ich auch.

P. Gewiss, ja. Das kommt von dem gesunden Menschenverstand. Nun kommt die Streichholz­schachtel. Also ich denke mir, die Erde steht still, und alle Sterne rotieren rundherum; das ist genau das Umgekehrte, also Ptolemäus. Was muss dann passieren nach dem Muster der Streichholzschach­tel? Die Erde wird auch abgeplattet sein.

A. Wie soll denn das zu Stande gekommen sein, wenn die Erde stillsteht?

P. Das „wie“ ist zweite Sache. Warum das Streichholz beim zweiten Mal auch brennt, haben siehe auch nicht gefragt. Es tut es jedenfalls. Und so wird auch der rotierende Sternenhimmel eine solche Zugkraft erzeugen, dass die Erde sich abplattet.

A. Aber ich muss mir das doch vorstellen kön­nen.

P. Vorstellen können? Mein Herr, Sie sind sehr anspruchsvoll. Sie bilden sich wohl ein, sie könnten sich vorstellen warum das Streichholz brennt?

A. Natürlich kann ich mir das vorstellen.

P. Mein Herr, sie pflegen sich täglich 20 Ziga­retten anzuzünden, und darum sehen Sie täglich zwanzigmal die Tatsache, dass das Streichholz brennt. Wären sie so groß, dass ihre Füße auf dem Sirius ständen, und würden sie täglich zwanzigmal die Erde drehen und zwanzigmal zur Abwechslung die Fixsterne, so könnten sie sich auch meine Behauptung „vorstellen“.

A. (Nach kurzer Besinnung): Sie mögen Recht haben. Aber warum folgt aus dieser Wirkung der Sterne, dass Kopernikus Unrecht hat?

P. Wenn der Briefträger an meiner Haustür kommt, klingelt es. Wenn sie zu mir zu Besuch kommen, klingelt es auch. Ich kann also aus der Tatsache, dass es klingelt, nicht schließen, ob Sie oder der Briefträger an meiner Tür sind. Genauso ist es mit der Erde: die Abplattung entsteht auf jeden Fall, gleichgültig ob Kopernikus oder Ptolemäus recht hat. Ich kann also aus der Tatsache der Abplat­tung nicht schließen, wer recht hat.

A. Das ist sehr scharfsinnig. Aber Sie vergessen eins: wenn ich auch aus dem Klingeln allein nicht schließen kann, so kann ich doch an die Tür gehen, und dann sehe ich ja wer da ist.

P. Ja, das ist eben der Unterschied zwischen Kopernikus und dem Briefträger. Der arme Kopernikus müsste, außer der Abplattung, noch andere Wirkung sehen können, um auf die Bewe­gung der Erde zu schließen. Nun gibt es zwar noch mehr solche Wirkungen. Aber nun kommt mein kleiner Satz, den ich der Streichholzschachteln noch hinzugefügt hatte: es geht mit allen anderen Wirkung ebenso; sie treten auch ein, wenn Ptolemäus recht hat. Darum hat Kopernikus prinzipiell kein einziges Mittel, die Bewegung der Erde zu erkennen.

A. Aha, aha, ich begreife. Mit dem kleinen Satz haben Sie mich gefangen. Also es gibt gar kein Mit­tel … ich begreife, ich begreife. Es kommt immer dasselbe heraus, ob das Karussell sich dreht oder die Welt … Aber ist beides sehr überhaupt ganz dasselbe.

P. In der Tat, Sie haben begriffen. Erst ist auch ganz dasselbe. Den Unterschied machen wir nur, weil wir nicht zu Ende denken. Einstein war der erste, der zu Ende gedacht hat. Das ist – alles.

A. Ausgezeichnet. Also man muss zu Ende denken. Ja, ja. Das scheint nicht ganz einfach zu sein. Aber sagen Sie, hat nicht Einstein noch etwas weiter gedacht als zu Ende, ich meine das mit den Lichtstrahlen, das hat doch nichts mit der Bewegung zu tun?

P. Man darf nicht bei jeder Station glauben, man sei schon am Ende; dann wird man immer noch mehr entdecken. Sehen Sie diesen Stein, den ich fallen lasse; er fällt in gerader Linie zu Boden. Der Herr drüben im Eisenbahnzgu, der gerade aus dem Bahnhof herausfällt und immer rascher fährt, hat den Stein durch Coupéfenster auch gesehen, aber für ihn ist die Linie des Steins eine gebogene Kurve wenn er sie auf dem Fensterglas zeichnet.

A. Weil er sich bewegt, mit dem anfahrenden Zug.

P. Ja. Nach dem Prinzip der Streichholzschach­tel aber darf er auch sagen: er sei in Ruhe, und wir bewegen uns mit der ganzen Stadt und der Welt an ihm vorbei. Dann nennt er die Kraft, die ihn jetzt beim anfahren des Zuges an die Coupéwand drückt, ein Gravitationsfeld, und er sagt: die Gravitation macht die Bahn des Steines krumm. Aber für ihn sind auch Lichtstrahlen krumm, aus dem gleichen Grunde, und darum sagt er auch: die Gravitation machte Lichtstrahlen krumm.

A. Und bei der Sonne?

P. Da sagen wir, dass ein Gravitationsfeld da ist, also müssen wir auch sagen, dass die Lichtstrahlen krumm sind. Würden wie im Flugzeug auf die Sonne stürzen, so wäre für uns kein Gravitationsfeld da, und Lichtstrahlen wären für uns gerade.

A. Das begreife ich nicht so gut. Ich muss mir es wohl noch überlegen.

P. Es ist aber ganz die gleiche Überlegung. Man muss allerdings sehr genau nachdenken.

A. Schade, dass ich das mit meinem gesunden Menschenverstand nicht begreife.

P. Sehen Sie, gesunder menschenverstand es eine sehr schöne Sache, aber es ist zweierlei, ob man über einen guten Tipp für die Börse nachdenkt oder über Lichtstrahlen an der Sonne. Wie sagt doch Kant? „Meißel und Schlägel können ganz wohl dazu dienen, ein Stück Zimmer Holz zu bearbeiten, aber zum kupferstechen muss man die Radiernadel brau­chen.“ Wenn einer die Einsteinstheorie ganz verstehen will, muss er mit der Radiernadel in seinen Tieren zeichnen können.

A. Ja, das mag wohl so sein. Ich will aber doch lieber bei dem guten Börsentipp bleiben. Aber ein­zigartig begriffen: der Einstein muss verflucht gut denken können, bis zu Ende denken können.

P. Wollen sie auch nie wieder sagen, die Relati­vitätstheorie sei Unsinn?

A. Nein. So weit reicht mein gesunder Men­schenverstand doch noch, dass ich merke wo der andere weiter denkt, bis zu Ende, meine ich.

P. Sehen Sie: eine Streichholzschachtel, ein kleiner Satz und 10 Minuten zu hören! Würden doch alle gesunden Menschenverstand der einmal 10 Mi­nuten zu hören!

Der Physiker: (verabschiedet sich herzlich und geht).

Der Mann mit dem gesunden Menschenverstand: es ist doch gut, dass nicht alle Menschen bis zu Ende denken. Ich glaube dann wäre es mit den Börsen­tipps vorbei.

(Er zündet sich eine Zigarre an, indem er vorsich­tig die Streichholzschachteln mit der linken Hand festhält: dann steckt er sie heimlich in die Tasche und geht ebenfalls.)


 

 

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